Rezension: Mattern, Jean – „Im Király-Bad“

Insel Verlag, 2010; ISBN: 978-3-85129-684-6
Originaltitel: Les bains de Király, 2008
Bezug: Buchhandel Preis: Euro 16.80

In Jean Matterns Debütroman durchlebt der in London lebende ca. 30jähriger Übersetzer Gabriel eine Sinnkrise, die in seiner mangelnden Aufarbeitung seiner Vergangenheit und in dem unbegreiflich bleibenden Unfalltod seiner Schwester Marianne wurzelt. Mittels Erinnerungen versucht er, sich seiner eigenen Identität bewusst zu werden und gelangt dabei zu der Erkenntnis, dass sein Dasein als eigenständiges Individuum nicht von einer vor hundert Jahren ereigneten Geschichte bestimmt werden kann.
Gabriel ist ungarisch-jüdischer Herkunft und übersiedelt im frühen Kindesalter mit seinen Eltern nach Südfrankreich. Die Gründe für diese Übersiedelung bleiben nicht nur dem Leser, sondern auch Gabriel selbst verborgen: sie werden von den Eltern, wie vieles andere, hartnäckig verschwiegen. Bewegende Ereignisse – wie der Tod der Schwester, die Krankheit des Onkels – werden innerhalb der Familie mit der Formel „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen“ beiseite geschoben; ein mögliches Nachfragen wird auf diese Weise von vornherein ausgeschlossen. Auch über das Heimatland seiner Eltern wird in der Familie nicht gesprochen, so formieren einzig kulinarische Erlebnisse Gabriels Wissen über das Magyarentum. Ebenso bleibt ihm die ungarische Sprache unzugänglich, wird diese von seinen Eltern doch nur hinter seinem Rücken geflüstert. So gewinnt der Protagonist in seiner Selbstreflexion den Eindruck, er selbst ist ohne Muttersprache aufgewachsen.
Als Gabriel im jungen Erwachsenenalter nach London zieht; dort studiert, Freunde und seine spätere Ehefrau Laura kennenlernt, bleibt das seit früher Kindheit angelernte und verinnerlichte Schweigen auch ihnen gegenüber unüberwindlich. Laura begegnet er mit Belesenheit und Bildung und täuscht auf diese Weise über seine Gefühle hinweg; seinen Freunden Leo und David ist er ein guter Zuhörer, vermag sich jedoch selbst nicht zu öffnen. Bedrückende vereinzelte Erinnerungen – beispielsweise an die letzten Minuten, bevor die Polizei der Familie den Unfalltod der Schwester berichtete oder an das abendliche Tischdecken als 10-jähriger, wenn er anstatt der benötigten drei Gedecke auch ein viertes für die tote Schwester bereitlegte – münden für Gabriel weder in ein erklärbares Ganzes noch gelingt es ihm überhaupt, diese Erinnerungen nahestehenden Menschen zum Ausdruck zu bringen. Erhofft sich Gabriel zu Beginn seiner Ehe noch die Verdrängung dieser Erinnerungen durch die lebenslustige Art Lauras, so erweist sich diese Hoffnung nach den ersten zwei Ehejahren als trügerisch.
Als Gabriel an einem Übersetzerkolloquium in Ungarn teilnimmt, entdeckt er auf einem Budapester Friedhof den Grabstein mit dem Namen seines Großvaters. Durch diese Entdeckung fühlt er sich derart von seiner unverarbeiteten Vergangenheit heimgesucht, dass ihm das in London geführte Leben in seiner Art nicht fortsetzbar erscheint. Als er überdies von Lauras Schwangerschaft erfährt, spürt er den Beginn eines neuen Lebenskapitels, das nicht für ihn bestimmt ist – er weiß schlicht und ergreifend nicht, wie er mit seinem Kind sprechen soll. Allerdings kann er auch diese Empfindung Laura gegenüber nicht äußern – immerhin aber gelingt es ihm, die Zweifel in einer Email seinem Freund Leo mitzuteilen. Diese Email bleibt allerdings insofern nicht ohne Folgen, als dass Laura diese unbedarft öffnet und liest und daraufhin Gabriel enttäuscht verlässt.
Gabriel fährt nun ein zweites Mal nach Ungarn, jetzt allerdings nicht mehr aus beruflichen Gründen, sondern, um die Geschichte seiner Herkunft aufzuspüren. Doch es bleibt einzig bei der Absicht. Gabriel verzichtet auf die angebotene Hilfe von János Almassy – einer Bekanntschaft von seinem ersten Ungarnaufenthalt – und anstatt in den Stadtarchiven seine Herkunft weiter aufzuspüren, fährt er zurück nach London. Als schließlich weitere Nachforschungen János‘ Hinweise auf die Familiengeschichte Gabriels geben, weiß dieser doch eigentlich nicht, was er mit den Schatten der Vergangenheit anfangen soll. Unweigerlich stellt sich für ihn die Frage nach einem völligen Neuanfang.
Ein möglicher Neuanfang wird in dem Roman an verschiedenen Stellen durch die Erwähnung des jüdischen Versöhnungstages Jom Kippur – der heiligste und feierlichste Tag des jüdischen Jahres bezüglich Umkehr, Reue und Versöhnung – implizit angedeutet. Insgesamt erweist sich Gabriels häufiger Besuch von Synagogen für die Entwicklung seiner Sinnkrise als bedeutungsschwer, kann er sich doch am Ende der jüdischen Religion nicht mehr entziehen. Jahrelang war Gabriel der „Spezialist für Worte, aber für die Worte andere, die von Wörterbüchern, Fremdsprachen, Schriftstellern und Leo“ – dennoch war er immer davon überzeugt, dass Worte insgesamt unzugänglich sind. Erst die betende Gemeinschaft in der jüdischen Synagoge kann ihn vom Gegenteil überzeugen.
Die Sinnkrise Gabriels ist in dem Roman allgegenwärtig. Gabriel als Ich-Erzähler berichtet vom Zeitpunkt der bereits beginnenden Selbstvergewisserung, die Trennung von Laura und seine Erfahrungen in Ungarn sind bereits nahe Vergangenheit. Die eher zu Beginn des Romans gestellte Frage: „Ist jetzt die Zeit gekommen, um endlich damit aufzuhören, mich in fremde Sprachen zu flüchten, solche, die ich schon erlernt habe oder deren Lehrbücher sich auf meinem Schreibtisch stapeln?“ findet mit Gabriels tastender Annäherung selbst eine bejahende Antwort. Die titelgebende Szene ‚Im Király-Bad‘ nimmt dabei nur wenig Raum ein; es ist der Besuch Gabriels bei seinem zweiten Aufenthalt in Ungarn: „Ansehnlicher Dampf stieg aus dem Becken auf. Zusammen mit dem schummrigen Licht und der Hitze erzeugte dieser weiße Vorhang ein merkwürdiges, schwebendes Gefühl.“ Es ist eben dieses Gefühl, das den Roman durchzieht; ähnlich wie der aus dem Becken aufsteigende Dampf, so wirkt auch Gabriels bisheriges Lebens für ihn selbst und für den Leser wie ein verschleiernder Vorhang. Dabei macht die Intensität der Empfindungen Gabriels auf eindringliche Art deutlich, welche Bedrohung das Verdrängen und Verschweigen von Herkunft für die eigene Identität bedeutet.

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